Jede Frau hat in Deutschland die freie Wahl des Geburtsorts – theoretisch. Praktisch ist dieses Recht aber eingeschränkt. Tatsachlich bleibt nur die Wahl zwischen klinischer und außerklinischer Geburt, die ausschließlich durch das oft sehr geringe Angebot der freiberuflichen Hebammen und der Geburtshäuser bestimmt wird.
Schlussendlich gebaren 98,5 Prozent der Frauen in Deutschland in einem klinischen Setting. Wir wissen nicht, wie hoch die Anzahl der außerklinischen Geburten bei einem größeren Angebot wäre, vermutlich aber mehr als lediglich 1,5 Prozent.
Wo liegt das Problem?
Innerhalb des klinischen Settings gibt es in der Regel keine weitere Auffächerung des geburtshilflichen Angebots. Im besten Fall ist deswegen die ≫freie≪ Wahl des Geburtsorts eine Wahl zwischen einer Geburt in der Klinik (mit Facharztinnen*standard) oder außerklinisch mit einer Betreuung durch Hebammen. Versorgungskonzepte, die innerhalb des klinischen Settings eine weitere Differenzierung zulassen, gibt es kaum.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer ist meiner Meinung nach ein historischer und hangt mit der stark ausgeprägten Hierarchie in der Medizin zusammen. Hebammen (und Ärztinnen*) kommen erst langsam dahin, interdisziplinar und interprofessionell zu denken und dabei die Frau und das Neugeborene als Nutzerinnen* des Systems in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Die Frage: ≫Was braucht und erwartet die Frau, um gut zu gebären, und welches geburtshilfliche Angebot benötigt sie dazu?≪ wird andere Antworten hervorbringen als die Frage, was die einzelnen Professionen im Rahmen einer klinischen Tätigkeit anbieten können und wollen. Eine häufige Antwort der Frauen ist, dass sie sich eine interventionsarme Geburt mit intensiver Betreuung und der Sicherheit einer klinischen Infrastruktur im Hintergrund wünschen, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können.
Die ökonomische Sicht
Wenn es theoretisch jeder Frau freisteht,1 ihren Geburtsort frei zu wählen und ihr diese Wahl ausdrücklich ermöglicht wird, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass jedes geburtshilfliche Angebot regional und kurz erreichbar zur Verfügung steht. Ökonomisch betrachtet wäre das kein guter Einsatz von knappen Ressourcen und widerspricht auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot der gesundheitlichen Versorgung. Was aber wäre möglich? Hier kommt der Hebammenkreißsaal (HKS) ins Spiel. Verwirklichen ließe sich ein vielfältiges Versorgungsangebot unter einem Klinikdach oder auf einem Klinikgelände. In diesem Versorgungsmodell kann der HKS entweder ein alleiniges oder idealerweise ein zusätzliches Angebot neben der ärztlich geleiteten Geburtshilfe sein.
Der HKS kann die Wahlfreiheit der Gebarenden in der Klinik sicherstellen. Wir wissen, dass Frauen sehr unterschiedliche Betreuungsbedürfnisse haben. Das Konzept des HKS setzt eine ausschließliche Hebammenbetreuung im klinischen Setting um. Das Konzept umfasst die Geburtsanmeldung, die Aufnahme und Betreuung sowie die Wochenbettbetreuung ausschließlich durch Hebammen. Der Schwerpunkt liegt auf der physiologischen Betrachtung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett mit der Frau als Souveränin ihrer Geburtsgeschichte.
Ein Ort des Austauschs
Im Netzwerk HKS des DHV sind 25 Hebammenkreißsäle der in Deutschland existierenden HKS organisiert. Die dort teilnehmenden Vertreterinnen* haben das Konzept HKS umgesetzt und halten das Angebot in ihrer geburtshilflichen Abteilung vor. Das Netzwerk dient dem Austausch zwischen den Kolleginnen*, die in diesem Konzept arbeiten, und der Weiterentwicklung gemeinsamer Kriterien des HKS. Es tut gut, sich über seine Erfahrungen, Schwierigkeiten und auch Erfolge auszutauschen. Deutlich wird im Rahmen der Treffen, dass sich alle HKS an dem ≫Handbuch Hebammenkreißsaal. Von der Idee zur Umsetzung≪2 orientieren, die individuelle Praxis in den geburtshilflichen Abteilungen sich jedoch unterscheidet. Beispielsweise wird in einigen Kliniken der gesamte klinische Betreuungsbogen angeboten, also Geburtsanmeldung, Geburtsbegleitung und Wochenbettbetreuung ausschließlich durch die Hebamme, in anderen ist das Betreuungsangebot auf die Schwangerschaft und Geburt beschrankt, und das Wochenbettangebot fällt raus.
Den Rahmen bildet der Kriterienkatalog
Jeder HKS hat einen klinikeigenen Kriterienkatalog, der dem Angebot der hebammengeleiteten Geburtshilfe im HKS zugrunde liegt. Der Kriterienkatalog dient jedem HKS als Entscheidungsgrundlage, ob eine Frau aus medizinischen oder psychosozialen Gründen hebammengeleitet gebären sollte. Er orientiert sich an folgenden Rahmenbedingungen, auf deren Grundlage dann ein abteilungsinterner Kriterienkatalog entwickelt und weiterentwickelt wird:
- Hebammengesetz,
- landesspezifische Hebammenberufsordnung,
- Einbeziehung der Kriterien der klinischen Versorgungsstufe,
- Einbeziehung aktueller relevanter Leitlinien.
Aktuell erarbeitet das Netzwerk HKS einen gemeinsamen Kriterienkatalog, der von allen als Arbeitsgrundlage genutzt und auf Basis geeinter Kriterien weiterentwickelt wird. Dieser dient als Basis für die Weiterentwicklung des Konzepts HKS und als Orientierung für neue Mitglieder im Netzwerk.
Hebammengeleitete Geburtshilfe fördern
Im Nationalen Gesundheitsziel Gesundheit rund um die Geburt3 ist ein formuliertes Teilziel die Forderung der interventionsarmen Geburt. Hier heißt es wörtlich: ≫Das Modell der hebammengeleiteten Geburtshilfe mit dem Konzept frauzentrierte Betreuung und Betreuungsprinzipien wie Kontinuität, partnerschaftliche Betreuung und Einbezug in Entscheidungen begünstigt die Gesundheitsforderung auf verschiedenen Ebenen.≪
Um das Gesundheitsziel in den einzelnen Bundesländern umzusetzen, wurden interprofessionelle Runde Tische eingesetzt, die zu unterschiedlichen Schwerpunkten des Gesundheitsziels arbeiten. Unter anderem wird in diesen Zusammenhangen die Forderung von Hebammenkreißsälen diskutiert und in einigen Ländern aktiv vorangebracht.
Im Rahmen der Umsetzungsprozesse in den nächsten Jahren ist davon auszugehen, dass der HKS als etabliertes Konzept durch gezielte Forderung der Länder unterstutzt wird. Zum Beispiel hat Sachsen-Anhalt in Halle die Implementierung von zwei Hebammenkreißsälen gefordert und erfolgreich realisiert. Nordrhein-Westfalen hat die GESscHIck-Studie gefordert und stellt Fördermittel für die Umsetzung zur Verfügung.
In der nächsten Ausgabe des Hebammenforums finden Sie einen weiteren Beitrag
von Andrea Ramsell über die Vorteile des Hebammenkreißsaals aus der Perspektive der Hebamme.
Hören Sie zum Thema Hebammenkreißsaal auch in die ersten beiden Folgen unserer Podcast Reihe - jeweils im Gespräch mit Andrea Ramsell, Beirätin für den Angestelltenbereich:
Wie es war, als Renate Nielsen 1998 zum ersten Mal mit dem Thema hebammengeleitete Geburtshilfe in Kontakt kam, wie sie aus ihrer ersten Begeisterung heraus mit ihrem Team 2004 selbst einen Hebammenkreißsaal implementierte und welche Rolle das heutige Netzwerk Hebammenkreißsaal dabei gespielt hat, hören Sie hier.
Podcast mit Carola Lienig und Gudrun Zecha
Über Erfolge, Rückschläge und Herausforderungen bei der Implementierung ihrer Hebammenkreißsäle sind hier Gudrun Zecha, Bereichsleiterin des Kreißsaals in Herrenberg sowie Carola Lienig als Bereichsleiterin der Geburtshilfe in Ludwigsburg und Bietigheim-Bissingen im Gespräch.
Quellen
Sozialgesetzbuch (SGB) Funftes Buch (V) § 24f Entbindung (Zugriff 5.11.21)
Verbund der Hebammenforschung (Hg.): Handbuch Hebammenkreißsaal.Von der Idee zur Umsetzung. 2007 (Zugriff 4.11.21)
Gesundheit rund um die Geburt (Zugriff 4.11.21)